An der nächsten Station stiegen sie aus und jetzt war es nicht mehr weit. Sie mussten nur noch ein kurzes Stück einer breiten Ausfallstraße folgen. Er sah der Bahn nach, die in der Mitte zwischen den Fahrspuren mit dem typischen Geräusch ihres schweren Fahrstrommotors wie ein lärmender Schlauch aus Licht in die Nacht davon fuhr. Hier draußen waren sie beinahe alleine mit den vorbeifahrenden Autos, nur ein verspäteter Nachtschwärmer eilte noch auf seinem Rad in Richtung Innenstadt an ihnen vorüber.
Ihr Weg führte sie an dem alten Zentralfriedhof vorbei, der sich wie ein eigenes, kleines Stadtviertel der Toten zwischen der Ausfallstraße und der nächsten Parallelstraße erhob. Er suchte hinter der halbhohen Mauer ein bestimmtes Grabmal, das er immer ansah, wenn er hier vorbei ging. Er fand es in einem langen, breiten Mittelgang wieder. Wenige Meter von der Mauer entfernt warf es sich hoch und schlank in die Äste der Bäume hinein. Von schwarzer Patina überzogen hoben sich blass rote Granitquader zu einer schlichten, schmalen Grabwand empor. Wie unter einem Bann saß eine steinerne Frau streng und erhaben auf dem granitenen Block, mit Schleier und Kranz angetan, wie in aufrechter Wacht über dem Grab. Eine Hecke raschelte im Dunkeln silbrig mit kleinen Ästen aus der Grube zu ihr hinauf.
Es lag ein unentschiedener Widerspruch in der ganzen Komposition, Er hatte schon oft versucht, die steinerne Frau auf eine bestimmte Aussage hin festzulegen. Aber besonders jetzt, in dem schwachen Licht einer einzelnen Straßenlaterne, wechselte der Ausdruck der Figur beständig. Ein leichter Schatten genügte, um den stolzen, über Mensch und Tod erhabenen, schwarzen Engel in eine gebrochene Trauernde zu verwandeln, die am Grab ihres Geliebten in regloser Ruhe erstarrt war. Jeden Moment schien sie sich mit ihren Armen von der Bank empor drücken zu wollen, um über dem stillen Grabe aufzuerstehen. Sie war beides zugleich- reglose, stille Schläferin im Grün und gleichzeitig eine Gebieterin des Todes, die hinter sich mit weitgespanntem Arm die tote Macht des Steines barg.
Auszug aus „Die Rotkäppchen Etüde“. Erzählung. 110 Seiten.
Copyright 2010 Wolfgang Aistermann.